Der Donnerstag hat seinen Betrieb auf unbestimmte Zeit eingestellt. d. Red.

ZUM DOKUMENTARFILM "WASTE LAND"

Aschenputtelkunst

9. Juni 2011 von Niele Büchner
Im Kino läuft zur Zeit der Dokumentarfilm "Waste Land“ über ein soziales Kunstprojekt des brasilianischen Künstler Vik Muniz, das er auf einer Müllhalde in Rio de Janeiro durchgeführt hat. Muniz, der hauptsächlich in New York lebt, ist hierfür in sein Heimatland zurückgekehrt und hat das Projekt gemeinsam mit den dort arbeitenden Mülltrennern, den sogenannten Pflückern, realisiert. Zunächst führte er Gespräche mit den Arbeitern, anschließend porträtierte er sie. Diese Porträtaufnahmen hat er im nächsten Schritt – seiner üblichen Arbeitsweise folgend – vergrößert auf einen Boden projiziert und die Linien und Schatten mit Hilfe der "Pflücker" mit Müll nachgestellt. Von dieser Installation werden wiederum Fotos gemacht, die die verkaufbaren Kunstwerke darstellen.
Dem Vernehmen nach wollte der Künstler mit dem Projekt jedoch nicht nur künstlerische Arbeiten produzieren, sondern den Menschen vor Ort helfen. Er versucht das auf zweifache Weise: erstens durch eine Kunstauktion, auf der die entstandenen Fotografien versteigert wurden, und dessen Erlöse er an die Porträtierten weitergibt. Zweitens mittels Veränderung der Wahrnehmung und Selbsteinschätzung der Menschen durch die Kontextverschiebung, die das Fotografieren an sich und die daran anschließende Ausstellung der Bilder im Kunstkontext mit sich bringt. Im Film wird dementsprechend den Aussagen und Einzelschicksalen der Porträtierten viel Raum gegeben und betont, wie das Projekt die Porträtierten verändert hat und wie sie sich und ihre Arbeit durch das Projekt aufgewertet fühlen. Der Fokus wird auf die Wirksamkeit des Projektes gelegt: der erfolgreiche Künstler kommt in sein Heimatland zurück und gibt sich als großzügigen und sozialer Mensch aus, der den armen, bemitleidenswerten Menschen helfen will, die im Dreck arbeiten müssen.
Interessant ist jedoch zu sehen, dass es den Menschen gar nicht so schlecht geht, wie anfangs von Muniz angenommen. In New York spricht er noch davon, dass es sich bei den Arbeitern wahrscheinlich um abgewrackte, drogenabhängige Menschen handelt und sorgt sich um seine Gesundheit. Aber der Film zeigt weder Kinderarbeit, noch Gewalt oder Missgunst, stattdessen erfährt man von einer Gewerkschaft und der Solidarität der "Pflücker" untereinander. Zwar ist die Arbeit hart und in der Gesellschaft wenig anerkannt, doch für viele ist sie eine legale Alternative zu Prostitution oder Drogenhandel und erfüllt zudem eine gesellschaftliche Funktion, was dazu führt, dass die "Pflücker" nicht ohne Stolz von ihrer Arbeit sprechen. Muss man diesen Menschen wirklich noch helfen? Und sät Muniz nicht eher Missgunst und Neid, durch die selektive Auswahl einiger weniger? Tut man den Menschen wirklich einen Gefallen, wenn man sie mit Geld beschenkt und ihnen die große weite Welt zeigt, indem man sie nach London zur Kunstauktion und zur Ausstellungseröffnung ins Museum einlädt? Geht es Muniz tatsächlich um die Menschen oder nicht vielmehr um seine Inszenierung als großzügiger und sozialkritischer Künstler?
Durch das Herausgreifen einzelner Personen wird höchstens punktuell geholfen, während die strukturellen Arbeitsbedingungen und das Recycling System der Stadt nicht verbessert werden. Muniz ermuntert die Menschen nicht zum selber machen und ausprobieren, sondern setzt sie als seine Assistenten ein. Positiv ist wiederum, dass er auch der Gewerkschaft Geld spendet und damit die Gemeinschaft unterstützt. Dies ist auch deshalb gut, weil die Gewerkschaft die Menschen auf die bevorstehende Schließung der Müllkippe vorbereiten und Umschulungen anbieten will. Muniz verschafft den "Pflückern" öffentliche Aufmerksamkeit. Die Einzelausstellung im Museu de Arte Moderna in Rio, in der er die entstandenen Arbeiten zeigt, ist nach einer Picasso-Ausstellung die zweitbest besuchte in Brasilien. Seine Porträts zeigen die "Pflücker" nicht als Opfer oder Hilfsbedürftige, zielen vielmehr auf ihre Würde. Wenn er sie auf Eröffnungen mitnimmt oder sie zu Hause besucht, begegnet er ihnen nicht von oben herab, sondern respektiert sie als Menschen. Im Film gibt es eine Stelle, die aufschlussreich ist, um zu verstehen, was Muniz mit dem Projekt intendiert. Es handelt sich um ein Gespräch zwischen Muniz, seiner Frau und seinem Assistenten über die Frage, was für eine Wirkung das Projekt auf die Beteiligten hat und ob es gut ist, sie aus ihrem bisherigen Kontext und Leben herauszuholen. Während seine Frau Bedenken äußert, ob es gut ist, Menschen aus ihrer gewohnten Umgebung herauszureißen, weil man sie dadurch auch zu sehr erschüttern kann, äußert sich Muniz optimistisch und betont, dass es ihm darum geht, die Selbstwahrnehmung der Menschen zu verändern und ihre Perspektive zu öffnen. Gemessen an diesem Anspruch, ist das Projekt wirksam gewesen – glaubt man den Aussagen der Porträtierten im Film und den kurzen Biografien, in denen geschildert wird, was mit ihnen nach dem Projekt geschehen ist. Dies wird durch den "good will" des Films noch unterstrichen. Der Film der Regisseurin Lucy Walker konzentriert sich auf die Dokumentation des Kunstprojekts, während er sich mit Hintergrundinformationen, Kommentaren und Kritik zurückhält. Das Projekt wird somit als Erfolgsgeschichte auf allen Ebenen inszeniert: mit hohen Verkaufserlösen und den damit verbundenen Spenden, vielen Tränen der Dankbarkeit, superlativen Besucherzahlen und hoher Aufmerksamkeit für alle Beteiligten. Die vermittelte Botschaft lautet: glaube an dich selbst, auch wenn sonst keiner an dich glaubt. So wie Muniz an sich glaubte, als er sich gegen den Willen seiner Eltern, die in Armut lebten, für das Kunstmachen entschied. Hier wird also die klassische Tellerwäschergeschichte erzählt, doch lohnt es sich noch mal genauer hinzuschauen: Irma zum Beispiel, hat von ihrem Geld zunächst ein eigenes Restaurant aufgemacht, ist dann aber in die "Jardim Gramacho" zurückgegangen, weil sie ihre dortigen Kollegen vermisst hat. Hier wird noch mal deutlich, dass die Situation der “Pflücker„ nicht so schlecht war, wie anfangs angenommen und dass sich der Erfolg des Projekts weder an Verkaufspreisen und Besucherzahlen noch an der Tatsache bemesse lässt, dass die Personen ihr Leben auf der Müllkippe hinter sich gelassen haben. Vielmehr ist entscheidend, dass den Beteiligten die Möglichkeit gegeben wurde, sich frei zu entscheiden ohne dabei missionarisch bevormundet zu werden. Diesen Aspekt hat die Dokumentation jedoch eher vernachlässigt. Der klassischen Hollywoodstory ähnelt sie umso mehr. Eine kritischere und differenzierte Darstellung des Projekts hätte dem Film gut getan.