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KARLSRUHECONTINENTAL DRIFT I + II

Ästhetik als Kollateralschaden

14. Juli 2013 von Erik Stein
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Gruß vom Original – Konzeptkunst 1976: „…It's Still Privileged Art“ von Carole Condé und Karl Beveridge (Courtesy the artist)
Dem Eindruck schierer Vermassung kann man sich bei einer Ausstellung mit insgesamt sieben Kuratoren und über 100 teilnehmenden Künstlern kaum erwehren. Ganz falsch ist das nicht: „Continental Drift – Konzeptkunst in Kanada“ im Badischen Kunstverein will versammeln, nicht verdichten. Die Ausstellung will nicht selbst Geschichte sein, sondern geschichtliche Roadmap zu ein paar weniger bekannten Seitenstraßen der Konzeptkunst. Die Reise geht nach Kanada, in die sechziger und siebziger Jahre. Von dort erhofft man sich neue Impulse für eine „globale Geschichtsschreibung der Konzeptkunst“. Doch fraglich bleibt zunächst, ob man tatsächlich auf neue Erkenntnisse abzielt oder lediglich auf ein paar neue, weil unbekannte Beispiele für längst bekannte Topoi? Die Kapitel der Ausstellung lassen Letzteres vermuten, als sich mit ihnen durchaus auch eine generelle Einführung in die Geschichte der Konzeptkunst gliedern ließe: Sprache, Kartografie, Kollaboration, Feminismus – das alles kommt wenig überraschend.
Gegen die Ausstellung spricht das nicht. Es passt sich ein in den angenehm unaufgeregten Gesamtauftritt, der nicht vorgibt, eine globale Sensation zu präsentieren. Eher muss man an einen etwas langweiligen aber sympathischen Professor denken, der mit Bergen an Material aus dem Archiv zurückkehrt und sich mit leuchtenden Augen daran macht, sagen wir den Unterschied zwischen kanadischer und us-amerikanischer Verkehrsordnung aufzudröseln. Was hat „Continental Drift“ über leuchtende Kuratorenaugen hinaus zu bieten? Vor allem bietet die Ausstellung Gelegenheit, die abwesende Gegenwartskunst auf ihre Lieblingsreferenz hin zu befragen: Konzeptkunst nach der Konzeptkunst, was könnte das sein?
Wie präsent und unstrittig ihre Ästhetik noch immer ist, zeigt schon der zweite Blick, den man braucht, um dem Ausgestellten das halbe Jahrhundert anzumerken, das es auf dem Buckel hat. Und da wird es interessant. Ein Beispiel: Die Ausstellung, die in zwei aufeinander folgenden Teilen gezeigt wird (der erste war bis 23. Juli zu sehen, der zweite noch bis 8. September), zeigt das „Line Project“ (1970) von General Idea. Präsentiert wird es neben Fotos und Dokumenten mit neun dicken Tauen, die lose von der Wand in den Raum hineinragen. Das sieht aus wie Kunst aussieht seit Attitüden Form werden, nämlich immer noch erstaunlich zeitgenössisch. Eine postkonzeptuelle Arbeit in einer beliebigen Berliner Galerie sieht heute nicht viel anders aus – vielleicht hätte man die Taue noch in verschiedene Pastellfarben getaucht, aber sonst... Eben hier trumpft die Ausstellung mit Geschichtlichkeit und Kontext. Denn ihr ist nicht allein daran, das versammelte Material auszuleuchten, es geht auch um die Darstellung eines zeitlichen Kontext, in dem und aus dem heraus produziert wurde. Das erweckt die Arbeiten zwar nicht zum Leben – dafür hätte es dann doch so etwas wie eine Neuinszenierung gebraucht, eine eigene Geschichte. Aber es schafft, wo es gelingt, ein geschichtliches Bewusstsein. Und im postkonzeptuellen Dickicht der Gegenwart ist ein solche Präsentationsform wahrscheinlich nicht nur die mutigere (weil weniger spektakuläre), sie ist auch wichtiger als jeder Versuch eines Reenactments (wie wir ihn ja gerade in Venedig erleben dürfen). Umso mehr die Ausstellungsstücke nämlich, wie im Fall der arrangierten Taue, mit der Optik der Gegenwart gleichziehen, umso kontrastierender erscheint die Genese dieser Optik als quasiarchäologisches Überbleibsel von etwas, das in der Gegenwart nicht mehr zur Palette gehört: der Optimismus eines Aufbruchs.
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Contemporary Art Daily? Nein! Ausstellungsansicht des „Line Project“ von General Idea, Baujahr 1970 (Foto: Stephan Baumann)
Konkret dienten die ausgestellten Taue als Material für eine Aktion, mit der soziale Geografie nachgestellt und übersetzt wurde. Zehn Mitwirkende, die General Idea via Radioaufruf hatte gewinnen können, steuerten nach Anweisung je ein Polaroid von sich und eines von ihrer Wohnung bei. Die Wohnorte wurden in einem Stadtplan verzeichnet und mit einer Linie verbunden. Die Taue verkörpern also die Abstände zwischen den jeweiligen Wohnungen. Nicht nur die spröde Form der ausgestellten Objekte, auch deren Rückführung auf ein konzeptuelles Verfahren ist weiterhin präsent der Gegenwartkunst. Man kann an Wade Guyton denken oder an Michael Riedel, die die Form ebenfalls an Instanzen außerhalb des Künstlersubjekts delegieren. In keinem dieser Fälle aber findet sich ein utopisches Grundmotiv wie bei General Idea, bei denen der Gedanke von Vernetzung und Partizipation noch von einer fundamentalen Hoffnung auf eine umfassende gesellschaftliche Emanzipation geklammert wurde.
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Optimistischer Ringelpietz: Vera Frenkels „String Games: Improvisations for Inter-City Video“ von 1974 (Courtesy the artist and InterAccess)
Ein Video in der Ausstellung dokumentiert ein ähnliches Projekt (Vera Frenkels „String Games: Improvisations for Inter-City Video“). Man sieht ein paar bärtige Hippies und Frauen in Blümchenkleidern, die mit dünneren Seilen eine ähnliche kartografische Vernetzung darstellen. Man sieht auch die Öffentlichkeit, die die Aktion hatte: eine Straßenszene von Toronto im Jahr 1974. Man versteht den gesellschaftlichen Bezug, der – gewiss – auch naiv anmutet, aus heutiger Perspektive. Aber es ist wichtig zu verstehen, dass die Ästhetik sich notwendig aus solchen, vom Zeitgeist getränkten und im weiteren Sinne gesellschaftspolitischen Überlegungen ergab. Die Ästhetik war tatsächlich nur der Kollateralschaden einer Überzeugung, deren reklamierte Relevanz außerhalb des Kunstraums lag; die konkrete Formwerdung war Nebenprodukt pragmatischer Überlegungen. Es ging General Idea nicht darum, Taue in einer Galerie zu arrangieren, auf dass sie uns dort als Alltagsgegenstand „überraschen“, „irritieren“ oder irgendwelche Aspekte der Wahrnehmung „unterlaufen“ oder „ausloten“ – es ging schlicht und einfach um die Möglichkeit, eine Aktion i.e. eine Bewegung im sozialen Feld zu repräsentieren. Weiter gedacht: Ist es nicht sogar so, dass die ästhetischen Umwälzungen, die die damalige Konzeptkunst formulierte, ihre Entschlossenheit vor allem daraus schöpfte, dass sie ihre dringendsten Probleme außerhalb des Kunstfelds fand? Noch die radikalsten künstlerischen Neuformatierungen jener Zeit, wenn sie auch noch so sehr auf einen rein innerästhetischen Diskurs abzuzielen schienen (die Klassiker: Joseph Kosuth, Sol LeWitt usw.), wären missverstanden, ohne das mitgedachte Bewusstsein für und den Glauben an die Emanzipation sozialer Wirklichkeit.
Sucht man im jüngeren Kunstgeschehen nach Beispielen für einen solchen Optimismus, muss man bis in die Neunziger Jahre zurückgehen, als die Relationale Ästhetik noch nicht zum VIP-Event korrumpiert, als Partizipation noch keine postdemokratische Bullshit-Vokabel war und Vernetzung ein leuchtendes Versprechen unter Internetutopisten. Bis heute aber ist der universalistische Optimismus zur individuellen Selbstoptimierung zusammengeschrumpft. Das emanzipative Projekt verflüchtigte sich in elitären Raufereien auf Mikroebene (vgl. Gendertheorie et al.). Das Scheitern der Relationalen Ästhetik, die die soziale Utopie ja bereits auf Mikroebene verhandelte, war insofern exemplarisch. Selbst als entschiedener Gegner wird man ihr diese historische Dimension heute zugestehen müssen (Es gibt eben auch Kunst, die gerade aufgrund ihrer exemplarischen Dummheiten geschichtliche Bedeutung gewinnt.). Was von der Relationalen Ästhetik übrig blieb, waren die Displays, die die Künstler für ihre „Begegnungen“ genannten Mikroutopien schufen. Und sieht man von späteren Prätentionen ab, sind auch sie quasiarchäologische Überbleibsel eines ästhetischen Pragmatismus, der Konzeptkunst darin ziemlich verwandt. Von der blieben in den Siebzigern weniger die Displays als nüchterne Dokumentationen, vor allem die von utopischen Dekonstruktionen (nicht Destruktionen) von Sprache, Kartographie, Subjektivierung und visueller Kommunikation. Das hieß: Maschinengeschriebenes auf Din-A4, unprätentiöse Fotografien, schlichte Rahmung, Blockhängung, markierte Landkarten, Diagramme, ausgestellte Gegenstände, die auf ein Draußen verweisen, auf von Künstlern erprobte Neuformulierungen sozialer Spielregeln. Wie gesagt: Von dieser Ästhetik ist noch viel in der Gegenwart. Direkt, leicht variiert oder technisch aktualisiert. Immer wieder wird die damalige Aura von Ernsthaftigkeit und Konsequenz auf- oder besser abgegriffen, und sei es nur in Form der arrivierten Referenz. Die Utopie aber verschwand und nach ein paar ironischen Fußnoten in den Achtzigern, verlor die konzeptuelle Ästhetik eigentlich jeden erkennbaren sozialen Bezug. Anders: sie verlor ihr Problem.
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Ästhetik des Dokumentarischen im Badischen Kunstverein: Rodney Grahams „Rome Ruins“ von 1978 (Foto: Stephan Baumann)
Die Ästhetik der ersten Konzeptkunst war problemgetrieben. Sie war pragmatisch vor dem Hintergrund eines außerästhetischen, übergreifenden Zusammenhangs, dem zuvorderst sie sich verpflichtet hatte. Dieser Zusammenhang, auch das macht die Karlsruher Ausstellung deutlich, war eingebettet in einen gesamtgesellschaftlichen Optimismus, dem selbst die Ölkrise 1973 wenig anhaben konnte. Beneidenswert, denkt man, und danach: Wie müsste eigentlich eine Kunst beschaffen sein, der die Resignation der Gegenwart ins Werk geschrieben steht? Schließlich ist es gerade ihr untergründiger Optimismus der die ausgestellten Arbeiten im zweiten Blick so leblos erscheinen lässt, so historisch. Umso mehr führt es uns vor Augen, wie viel von der Gegenwartskunst nie auch nur den Versuch wagt, sich mit dem sozialen Pessimismus gemein, das heißt gegenwärtig zu machen.

Kommentare

#1) Am 20. Juli 12:54 um Uhr von danke

Nun, für das ungeübte und kunsthistorisch wenig vorbelastete Auge/Gehirn würde eine solche Kunst gegenüber dem zitierten vorherrschenden Konzeptkitsch mit seiner seit 40 Jahren tradierten Formensprache und seinen Mainstream gewordenen Laissez-Faire-Übereinkünften zunächst mal altmodisch wirken, geradezu altbacken, konservativ vielleicht. Weil sie ja die paradoxerweise zum wirklichen Konservatismus geronnenen, ürsprünglich noch so revolutionären "konzeptuellen" Formgebungen und Attitüden meiden würde wie der Teufel das Weihwasser, zugunsten einer anderen Sensibilität oder anderer Rückgriffe, im Sinne einer Distanzierung. Als doppelte Verneinung könnte da dann alles mögliche (wieder) zum Vorschein kommen, was in den letzten 40 Jahren "gar nicht ging" bzw. Ausweis mangelnder Zeitgenossenschaft und verschrobenen Einzelgängertums war oder gewesen wäre. Nicht alles wäre innovativ oder erfreulich, aber wenigstens würde mal eine andere Platte aufgelegt. Themen wären also diese blinden Flecke der Gegenwart wie die der konzeptuellen Kunst der 70er. Möglich auch, dass sich so eine Kunst nicht nur der überkommenen und entleerten, zu Klischees geronnenen Denkstrukturen und Ästhetiken, sondern auch der zugehörigen Orte und Märkte, an denen diese heute stattfinden, und ihres Publikums gleich mit entledigen würde. Dann taucht sie velleicht unerwartet ganz woanders auf. Wo müsste man sie dann stattdessen suchen, diese neue Melancholie? Und wie vermeidet sie, einfach nur plump zurückzufallen vor die konzeptuelle Kunst der 70er, und inwiefern träte SIE dieses Erbe vielleicht sogar angemessener an als die Mainstreamkunst der Gegenwart?