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HAMBURGMORITZ SÄNGER & TILMAN WALTHER: ALLES WAS DER FALL

Tractatus logico-photographicus

21. April 2011 von Erik Stein
Erst kürzlich hat Wolfgang Kemp den Titel eines Kunstwerks als dessen Wichtigstes hervorgehoben. Statistisch zumindest: Im Durchschnitt investierten Museumsbesucher für das Werk selbst nämlich nur zwei, ganze vier Sekunden ihrer Aufmerksamkeit aber für den Titel. Nun ist das mit Statistiken so eine Sache und auch diese wird kaum dazu beitragen, der tendenziellen Unterbewertung von Titeln entgegenzuwirken. Moritz Sänger und Tillman Walther haben bei ihrer aktuellen Ausstellung in der Galerie Genscher darauf verzichtet, die Titel der einzelnen Arbeiten offenzulegen. Vielleicht braucht es das auch gar nicht, wenn man mit dem Ausstellungstitel selbst schon dermaßen vorlegt. „Alles was der Fall ist“ ist Teil des ersten und damit logisch gewichtigsten Satzes von Wittgensteins Tractatus logico-philosophicus. Vollständig lautet er: „Die Welt ist alles, was der Fall ist“. Doppelt bemerkenswert ist dieser Titel, weil er mit Wittgenstein einen Denker zurück ins Spielfeld rückt, der aktuell ziemlich jenseits der Kunstdiskurse siedelt, und weil er zudem Teil einer logischen Gleichung ist, auf dessen Gegenseite nichts weniger steht als: die Welt.
Für gewöhnlich sollte man misstrauisch werden, wenn einem auf Flyern und Plakaten die Welt versprochen wird. Weil in der Kunst die Weltbehauptung aber eine solche Seltenheit geworden ist, steht und fällt die Ausstellung auch mit dieser kühnen und bemerkenswerten Ansage.
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Eins, zwei oder drei: Lichtschleuse von Sänger und Walther (Courtesy Galerie Genscher)
Was man in der Galerie zu sehen bekommt, lässt sich in vier einzelne Arbeiten unterteilen. Rechts neben dem Eingang hängen in zwei Reihen jeweils sechs überwiegend schwarze, hochformatige Fotografien. An den Rändern der Äußeren runden sich die Ecken mit einem Verlauf ins Gräuliche. Was zu sehen ist, erfährt man auf Nachfrage. Ohne das spekuliert man erst einmal in Richtung Laborfehler oder fotografische Repliken auf Ad Reinhardt oder Malewitsch. Beides geht fehl. Zu sehen ist das mittels eines kompletten 12er-Film belichtete Satzzeichen am Ende des ersten Satzes von Wittgensteins Tractatus, ein Punkt also. Gegenüber hängen in einer Reihe gerahmte Fotogramme explodierender Feuerwerkskörper, die sich über ihr eigenes Explodieren quasi selbst belichtet haben. Die Rahmen sind mit Graupappe besetzt, was ihnen einen provisorischen, modellhaften Charakter verleiht.
In der Mitte des Raumes steht ein weiterer türhoher Raum, vermutlich aus Trockenbauteilen. Er misst etwas mehr als einen Quadratmeter und hat drei Zu- bzw. Abgänge. Eine der drei Türen ist dabei besonders augenfällig. Sie enthält eine zweifache grauliche Kolorierung und klassische Holzabstufungen. Auch hier erfährt man erst auf Nachfrage, dass es sich um einen Eins-zu-eins-Nachbau der Lichtschleuse des Fotolabors der Hamburger Kunsthochschule handelt, an der Sänger und Walther studieren, und wo sie u.a auch für die Nachfolgereihe der „Fotofolgen“ verantwortlich zeichnen. Wer durch die Haupttür der Schleuse eintritt, hat zwei Möglichkeiten. Hier führen beide zurück ins Außen, im Original entscheidet man sich zwischen Farb- und Schwarzweißlabor.
Die vierte Arbeit im Spielfeld ist ein aufgehängter und ausgerollter Fotohintergrund, der in einem Winkel des Galerieraums platziert ist. Er ist noch nicht einsehbar, wenn man den Raum von der Eingangstür her erstmals überschaut. Auf den Fotohintergrund ist eine komplettes Fotostudio inklusive leerem, weißen Fotohintergrund aufgemalt. Hier erzielt das Gespräch mit einem der anwesenden Künstler ebenfalls einen nicht zu verachtenden Informationsvorsprung: Die Malerei wurde im Auftrag der Künstler von einer Firma in China angefertigt, die üblicherweise Fotohintergrunde für größere Studios herstellt, gemalte Fantasiewelten für Technikkerker. Für wen Anderes wäre aber die Fantasie einer Studioeinrichtung als Hintergrund denkbar als für den Fotografen selbst? Fotografische Selbstbespiegelung – sie scheint der Dreh- und Ankerpunkt dieses philosophischen Kabinetts
Nun ist die Medienreflexion eigentlich Angelegenheit zurückliegender Kunstdekaden und sie könnte gerade in ihrer Puristik auch hier reichlich angestaubt daherkommen, stünde nicht die anmaßende Weltbehauptung über dem Eingang. Dieses Vorzeichen wendet die Kunst von der ‚Untersuchung an den Rändern eines Mediums’ hin zu einer rigiden Grenzmarkierung. Alle Arbeiten, so konzentriert sie im Einzelnen wirken, erinnern stark an vergangene Versuche künstlerischer Fotografie. Mit Wittenstein aber behaupten sie eine Unausweichlichkeit: Kunst (hier am Beispiel der Fotografie), kann nicht mehr, als die Elemente des Vorhandenen (ein Satzzeichen, eine Explosion, ein Raum) in eine andere, nämlich ihre eigene formale Logik zu übersetzen (eine Bildserie, eine Bildrahmung, eine räumliche Konstruktion). Alle Erkenntnis ist Abbildung, und so kommt die Grammatik der Kunst grundsätzlich nicht über die einer anderen Sprache hinaus. Die Arbeiten fügen sich hier in die nüchterne Dramaturgie einer Argumentation, an deren Ende der Kunst nicht mehr bleibt, als jeder anderen Disziplin.
Abbildung zu
Auf den Punkt gebracht: "Die Welt ist alles, was der Fall ist." (Courtesy Galerie Genscher)
Natürlich könnte man die Vergrößerung des Satzzeichens auch mit Heisenberg als eine sich ‚annähernde Entfernung vom Gegenstand’ lesen, aber entscheidend wirkt im Zusammenhang mit Wittgenstein eher die Unterteilung in zwölf Einzelbilder, nämlich die Überführung in die Grammatik des Fotofilms – so abstrakt und unergründlich der gewählte Gegenstand auch sein mag. Die Lichtschleuse führt hier stets ins Freie, aber eben auch stets ins Leere. Und ihre binäre Logik ist die einer durchweg technischen bzw. grammatikalischen Konstruktion. Man mag einen letzten romantischen Krümel in der Hintergrundlandschaft für das ‚Selbstporträt als Fotokünstler’ erkennen, aber der gemalte Fotohintergrund hat vor allem eine lächerliche Note, was dem künstlerischen Selbstbild einen ziemlich traurigen Anstrich gibt. Die beiden Künstler sind einer Idee von der Kunst als exakter Wissenschaft bis an ihr Ende gefolgt und fanden nichts als Leere. Die Schönheit der fotogrammierten Explosionen könnte man dagegen halten, aber auch die wirkt in ihrer Papprahmung bereits wie im Karton verpackt und wegsortiert. Schließlich erfährt man die Beklemmung in der winzigen Lichtschleuse sinnbildlich für das Ganze, und die vorgeführte Ausweglosigkeit der Kunst wirkt erschreckend zeitgemäß.
So ergibt die Ausstellung vor allem Sinn als Ende. Das, sagt die Ausstellung, ist alles was die Kunst als Welt vermag. Die Härte ihrer Logik ist beachtlich. Mehr noch wecken die Künstler mit „Alles was der Fall ist“ aber das Interesse für ihren nächsten Zug. Denn dem Muster ihres Szenarios folgend bleiben ihnen eigentlich nur zwei Optionen: in der Leere verharren oder die Grenzen der Grammatik sprengen.