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BERLINTARYN SIMON: A LIVING MAN DECLARED DEAD

Kontextualisierte Fotografie

9. November 2011 von Niele Büchner
Konzeptuelle Fotografie war in den letzten Jahren stark angesagt, man denke nur an den kanonischen Erfolg von Bernd und Hilla Becher oder die vielfach reproduzierten Schokoladentafeln von Christopher Williams. Jüngere Positionen wie Annette Kelm oder Christopher Muller arbeiten erfolgreich in ihrem Fahrwasser, lenken die konzeptuelle Fotografie aber von ihren sachlichen Wurzeln hin zu selbstreferentielleren, poetischeren Positionen. Schon Rancière kritisiert an der sachlichen Fotografie der Bechers, dass diese zwar der Welt der reinen Kunst entkommt, um anhand von Untersuchungen die soziale Welt und ihre Widersprüche zu enthüllen. Gleichzeitig vermeidet sie aber den Eindruck Politik machen zu wollen, durch den Verzicht auf Gefühlsausbrüche und aktivistisches Engagement bei gleichzeitiger Verschönerung der industriellen und marktwirtschaftlichen Welt. Taryn Simon scheint diese Kritik beherzigt zu haben und fügt dem strengen formalen Konzept noch eine Ebene hinzu: die informativ-aufklärerische.
Wie schon in ihren früheren Serien ist kontextualisierender Text, den sie den Fotografien hinzufügt, in der Ausstellung ‚A Living Man Declared Dead and Other Chapters’, in der Neuen Nationalgalerie, ein wichtiger Bestandteil ihrer Arbeit. In einer Art Triptychon sind drei Bild-Text Ebenen nebeneinander gestellt: Links sind Porträts von einzelnen Familienangehörigen samt ihrer Verwandtschaft nach ihrer Blutlinie angeordnet, in der Mitte befindet sich eine Liste ihrer Namen und ein erklärender Text, rechts werden diese durch Dokumente und weitere Fotografien ergänzt.
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Hier gut zu sehen: die Dreiteilung der Arbeit in Bild-, Text- und Dokumentteil
Taryn Simon ist für diese Arbeit mehrere Jahre durch die Welt gereist und hat sich verschiedener (staatlicher und gesellschaftsimmanenter) Gewaltverbrechen angenommen, die sie anhand von einzelnen Biografien darstellt. In 18 Kapiteln greift sie ein Thema auf und schildert es anhand der unterschiedlichen Dokumente - wobei der erklärende Text das entscheidende Bindeglied ist, um den jeweiligen Kontext nachvollziehen zu können. Manchmal erzählen jedoch die Porträtreihen schon eine ganze Menge: Unterschiedlich lang, gibt es Leerstellen, Abweichungen und Wiederholungen. In einigen Fällen haben sich die Personen geweigert, fotografiert zu werden und haben stattdessen Klamotten geschickt, die statt ihrer abgelichtet wurden, in anderen Fällen bleiben Leerstellen, weil die Personen nicht fotografiert werden konnten, weil sie im Gefängnis saßen oder aus anderen Gründen verhindert waren. Im Fall einer drusischen Familie wiederholen sich einige Porträts, weil diese Religionsgemeinschaft an Reinkarnation glaubt - und statt des Großvaters dessen Reinkarnation in Person seines Enkels abgebildet ist. Dabei handelt es sich nicht immer um Familien: im Falle eines ukrainischen Waisenhauses sind einfach alle Waisen geordnet nach ihrem Alter aufgenommen worden.
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Die Waisenkinder aus Chapter XVII (Foto: Courtesy Gagosian Gallery)
Eins haben alle Porträts jedoch gemeinsam: Die Personen sind vor einem neutralen weißen Hintergrund fotografiert, in den meisten Fällen sitzen sie auf einem Stuhl. Durch dieses vereinheitlichende Prinzip bekommt die Arbeit ihre formale Strenge - während die Kontexte der Kapitel ansonsten stark divergieren. So wird in einem Kapitel das Schicksal der Albinos in Tansania erläutert, in einem anderen wird auf die Unterdrückung der Homosexuellen in Spanien unter General Franco hingewiesen. In anderen Kapiteln werden weniger allgemeine Phänomene beschrieben, als einzelne Personen in den Mittelpunkt gerückt: Latif Yahia zum Beispiel, der von sich behauptet das Körperdouble von Uday Hussein (Sadam Husseins Sohn) zu sein, oder Leila Khaled, die Mitglied der Volksfront zur Befreiung Palästinas ist und an zahlreichen Flugzeugentführungen beteiligt war. Obwohl einzelne Personen Ausgangspunkt der jeweiligen Kapitel sind, hätte man sich an einigen Stellen mehr Informationen zu ihnen gewünscht, denn zum Teil sind die Texte sehr allgemein gehalten und beschreiben eher die gesellschaftlichen Umstände denn die persönlichen Schicksale. Das führt dazu, dass das eigentliche Konzept, von einer einzelnen Person und ihrer Geschichte auszugehen, zugunsten des allgemeinen Kontextes aufgegeben wird. Ebenso wie Simon hier nicht streng konzeptuell vorgeht, gibt es zudem kein erkennbares System nach dem die Personen ausgewählt wurden. Ist sie zufällig auf diese gestoßen oder hat sie sich beraten lassen? Und was stand am Anfang: ein beobachtetes Unrecht oder das Schicksal einer Person? Simon verzichtet hier auf ein stringentes Konzept - auch die Texte geben keine Hinweise auf diesen Prozess. Nur in einem Fall wird die Auswahl direkt thematisiert: in China wurde gezielt die staatliche Informationsbehörde (SCIO) mit der Auswahl einer repräsentativen Familie beauftragt, um auf diese Weise den Allmachtsanspruch und den Kontrollwahn von Chinas Regierung zu demonstrieren.
Insgemsamt überzeugt die Ausstellung jedoch durch den gelungenen Spagat zwischen informativer, aufklärerischer und konzeptueller, formal-ansprechend Kunst. Die konzentrierte Betrachtung vieler Besucher bestätigt den Eindruck, dass diese dankbar sind für ein künstlerisches Format, das neben einer gelungenen formalen Umsetzung und räumlichen Inszenierung, Inhalte liefert, und es ihnen ermöglicht Bezüge zwischen Kunst und Leben, zwischen Kunst und gesellschaftlichem Zustand herzustellen.

Kommentare

#1) Am 14. Januar 16:40 um Uhr von franz müller

Ich glaub es nicht: wo finden sich dort infos, die wir nicht eh schon kennen? wo findet sich konzeptzuelle kunst? (seit wann soll diese eigentlich "ansprechend" sein??) stattdessen ist da doch nur eine möchtegern edle, sicherlich protzend teure aufbereitung (edle vitrinen etc), die ansonsten sich nicht von einer üblichen dokumentation der marke "volkshochschule" unterscheidet. und der zynismus diese "schicksale" mit dem der in australien massenhaft getöteten kaninchen zu vergleichen, dieses ist auch nicht aufgefallen?